Kann jedes Pferd im Offenstall leben?

Warum die Antwort komplex ist – und die Box nur selten die Lösung

Wie oft hören wir diesen Satz: „Mein Pferd steht in einer Box, aber es kommt doch jeden Tag raus.“

Doch was bedeutet das wirklich? Vier Stunden auf dem Paddock? Vielleicht sechs auf der Weide? Und die restlichen 18 bis 20 Stunden – allein, im geschlossenen Raum, auf wenigen Quadratmetern?

Wir leben in einer Zeit, in der Tierhaltung immer weiterentwickelt wird. Schweine bekommen Stroheinstreu, Hühner Auslauf, selbst Zoos gestalten Gehege neu, um Verhalten und Wohlbefinden der Tiere zu fördern. Nur in der Pferdehaltung scheint an vielen Orten die Zeit stehen geblieben zu sein.

Warum ist das so? Und vor allem: Was braucht ein Pferd wirklich, um gesund zu bleiben – körperlich wie seelisch?

Warum stehen Pferde überhaupt in Boxen?

Historisch betrachtet hatte die Boxenhaltung durchaus ihre Gründe. In der Antike und im Mittelalter waren Pferde Kriegs- und Arbeitspartner. Sie mussten verfügbar, sicher und „funktional“ sein. Im 19. Jahrhundert, als Pferde das Rückgrat von Landwirtschaft und Transport bildeten, war die Box praktisch: Sie schützte das „Arbeitsgerät“ vor Verletzungen und Witterung.

Doch diese Haltung stammt aus einer Zeit, in der man Pferde vor allem nutzen wollte – nicht, um ihnen gerecht zu werden.
Heute wissen wir: Ein Pferd braucht Bewegung, Sozialkontakt und frische Luft, um gesund zu bleiben. Trotzdem stehen noch immer unzählige Tiere den Großteil ihres Lebens in Einzelboxen.

Warum also halten wir an dieser Tradition fest?
Vielleicht, weil es bequem ist. Weil es kontrollierbar scheint. Oder weil wir gelernt haben, dass Ordnung im Stall gleichbedeutend mit guter Haltung sei.

Aber: Was ist Ordnung wert, wenn sie auf Kosten des Lebewesens geht, das wir lieben?

Die Folgen der Isolation – was Studien zeigen

Forschung und Praxis bestätigen längst, was unser Bauchgefühl schon weiß: Boxenhaltung hat ihren Preis.

Pferde in Einzelhaltung zeigen deutlich erhöhte Stresswerte. Studien der Nottingham Trent University belegen messbare physiologische Belastung – mehr Cortisol, höhere Körpertemperaturen, geringere Abwehrkräfte.
Eine schwedische Untersuchung fand zudem: Pferde in Boxen erkranken häufiger an Atemwegsproblemen (5,8 % vs. 1,1 % in Gruppenhaltung) und an Koliken (2,38 % vs. 0,38 %).

Und was ist mit ihrem Verhalten?
Koppen, Weben, Gitterbeißen – all das sind nicht „Unarten“, sondern Hilfeschreie. Zeichen eines Lebewesens, das seine natürlichen Bedürfnisse nicht ausleben kann.

Was bedeutet „artgerecht“ wirklich?

Artgerecht heißt nicht: „Sauber, sicher, trocken.“
Artgerecht heißt: natürliches Verhalten ermöglichen.

Ein Pferd ist ein Lauftier, ein Herdentier, ein Frischlufttier.
Sein Organismus ist darauf ausgelegt, 16–18 Stunden täglich in Bewegung zu sein – fressend, suchend, kommunizierend.

In der Box fehlt ihm all das.
Selbst mit täglichem Weidegang bleibt das Bewegungsdefizit riesig.
Und die Psyche leidet im Verborgenen.

Offenstall ist nicht gleich Offenstall

Aber bedeutet das, dass jedes Pferd automatisch in den Offenstall gehört?
Nicht unbedingt.

Es gibt viele Konzepte:
Laufställe mit Fress- und Ruhebereichen, Aktivställe mit Futterautomaten, Paddock-Trails, die Bewegung fördern – und leider auch solche „Offenställe“, die kaum mehr sind als ein Unterstand auf einer matschigen Fläche.

Ein guter Offenstall ist durchdacht:
Er bietet Schutz vor Witterung, strukturierte Funktionsbereiche, saubere Liegeflächen, ausreichend Futterstellen und – das Wichtigste – Ruhe und Raum für soziale Interaktion.

Denn Offenstallhaltung funktioniert nur, wenn sie gemanagt ist.
Nicht die Bauform entscheidet, sondern das Konzept dahinter.

Jedes Pferd ist anders – und genau darum geht es

Es gibt Pferde, die Offenstallhaltung sofort genießen – sie blühen auf, bewegen sich, atmen auf.
Und es gibt Pferde, die sich schwertun: die rangniedrigen, die alten, die ängstlichen.
Auch sie verdienen ein System, das zu ihnen passt.

Manchmal braucht ein Pferd Rückzugsräume oder zeitweise Separierung, etwa bei Krankheit oder im Hochsommer, wenn Insekten zur Qual werden.
Aber das sind individuelle Ausnahmen, keine Rechtfertigung für 20 Stunden Box am Tag.

Die Leitlinien sind eindeutig

Die Leitlinien zur Beurteilung von Pferdehaltungen unter Tierschutzgesichtspunkten (BMEL, 2020) schreiben vor:

Pferde müssen sich täglich frei bewegen können, und sie müssen Sicht-, Hör- und Geruchskontakt zu Artgenossen haben. Leider geht diese Empfehlung für mich nicht weit genug und oft wird sie ignoriert.

Dauerhafte Einzelhaltung widerspricht also nicht nur dem gesunden Menschenverstand – sie ist nicht tierschutzkonform.

Was bleibt? Verantwortung.

Die Frage ist also nicht mehr:
„Kann mein Pferd im Offenstall leben?“
Sondern:
„Passt dieser Offenstall mit seinem Konzept zu meinem Pferd?“

Denn Offenstall ist kein Dogma, sondern ein Ziel.
Ein Weg, Pferden mehr von dem zurückzugeben, was wir ihnen durch Zivilisation genommen haben: Luft, Bewegung, Herde, Freiheit.

Die Box mag in Ausnahmen sinnvoll sein – bei Krankheit, in der Rekonvaleszenz, zur kurzzeitigen Separation.
Aber sie darf niemals die Regel sein.

Fazit: Vom Pferdebesitzer zum Pferdemenschen

Ein Pferd ist kein Dekorationsobjekt, das sich in eine Haltung „einfügt“.
Es ist ein fühlendes, denkendes, kommunizierendes Lebewesen – und es zeigt uns sehr klar, wenn es nicht glücklich ist.

Offenstallhaltung in ihren modernen Formen – ob Laufstall, Aktivstall oder Paddock-Trail – ist kein Luxus.
Sie ist die logische Konsequenz aus dem Wissen, das wir heute haben.

Und vielleicht ist das die eigentliche Frage, die sich jeder stellen sollte:

Will ich, dass mein Pferd funktioniert – oder dass es lebt?

(Quellen: BMEL 2020; Equus Magazine 2020; University of Exeter 2022; PMC 2015, 2019, 2023; MDPI 2023; Tierschutzbund 2023; Josera; Pferde-Betrieb.de)

Du möchtest deinem Pferd eine artgerechte Haltung mit viel Bewegung ermöglichen und Teil dieser wunderbaren Gemeinschaft werden?